Bekannt geworden in der Version der italienischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg, wird «Bella ciao» heute überall auf der Welt gesungen, wo Menschen für oder gegen etwas demonstrieren. Dabei hat das Lied überhaupt keinen politischen Ursprung.
Marc Zollinger, Rom
Kürzlich an einer Anti-WEF-Demonstration in Davos. Oder immer wieder in Hongkong. Aber auch in Istanbul, in Libanon, in Kurdistan, in der Ukraine: Das Protestlied «Bella ciao» zieht um die Welt. Die Aktivistinnen und Aktivisten von «Occupy Wall Street» sangen es ebenso wie die in Kalifornien lebenden mexikanischen Landarbeiter. An den Demonstrationen von «Fridays for Future» ist das Lied zur Hymne geworden. Und im Heimatland Italien lassen es die Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung der Sardinen erschallen, wenn sie sich in einer Stadt versammeln.
Wann immer Menschen zusammenkommen, um ihre Stimme zu erheben, dann erklingt das Lied, das den italienischen Widerstandskämpfern gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg zugeschrieben wird. Dabei weiss kaum jemand, dass die Ursprünge des Liedes viel weiter zurückreichen und dass dieses am Anfang keineswegs einen politischen Hintergrund hatte. Im Gegenteil: Es ging um eine enttäuschte Liebe. Und vor allem: Bei den Partisanen war das Lied kaum bekannt. Nur vereinzelte Truppen in der Emilia-Romagna, in Piemont und in den Abruzzen sangen es, wie der Musikhistoriker Carlo Pestelli in seinem Buch «Bella ciao. La canzone della libertà» (ADD Editore, 2016) über das legendäre Lied festhält.
Am Anfang war eine enttäuschte Liebe
Dass «Bella ciao» heute als Partisanenlied durchgeht, hat mit einer Strategie zu tun, die man «invention of tradition» nennt: Eine Tradition wird erfunden, um einer Bewegung ein Fundament zu geben, welches sie zusammenhält. Zum «klassischen Partisanenlied» wurde «Bella ciao» nämlich erst, als Ende der 1950er Jahre das Bedürfnis entstand, die verschiedenen Gruppierungen der Resistenz zu vereinen – kommunistische, sozialistische, katholische und liberale. Man hätte auch andere Lieder auswählen können, etwa das damals viel populärere «Fischia il vento», das den «roten Frühling» ankündigt. Mit «Bella ciao» wurde jedoch die Hymne gewählt, die am wenigsten politisch ist, dafür eine starke zeitlose Note hat.
Pestelli legt in seinem Buch die vielen verschiedenen Schichten frei, die dem Lied zugrunde liegen. Er findet dabei Verbindungen zu jüdischer Klezmermusik und zu europäischen Volksliedern. Die ältesten Spuren gehen auf ein Lied zurück, das im 15.Jahrhundert in der Normandie gesungen wurde. Im 18.Jahrhundert tauchten Versatzstücke davon in Piemont und in Venedig auf. Insbesondere Anfang und Schluss der Liedtexte sind identisch. Es geht dabei um eine junge Frau, die eines Morgens aufwacht («una mattina mi son svegliata») und erfährt, dass der Geliebte eine andere hat. Von Liebeskummer gequält, möchte sie nur noch sterben und wünscht sich vom Geliebten, dass er dann eine Blume auf ihr Grab legt.
In der Version, die später während der Besetzung durch Nazideutschland zu erklingen beginnt, wird die Nebenbuhlerin durch den Invasor ersetzt («e ho trovato l’invasor»). Nach dem Zweiten Weltkrieg adaptieren auch die Reisarbeiterinnen in der Poebene das Lied. Sie ärgern sich über die Mücken, die sie bei der Arbeit piesacken, und über den Plantagenboss, der mit dem Knüppel in der Hand neben ihnen steht («il capo in piedi col suo bastone»).
So richtig populär wird «Bella ciao» aber erst 1963 durch den französischen Chansonnier Yves Montand (als Ivo Livi in der Toskana geboren). In der Folge wird das Lied in mehr als 40 Sprachen übersetzt, wobei der italienische Titel und der Refrain stets unverändert bleiben. «Bella ciao» erhält so einen globalisierten Ausdruck, den man auf der ganzen Welt versteht. Man sagt kurz und einfach Tschüss!
Populär nicht zuletzt dank Netflix
Dass das Lied heute immer wieder bei Versammlungen und Demonstrationen angestimmt wird, hat laut Pestelli insbesondere damit zu tun, dass es zu rhythmischem Klatschen einlädt, was eine spezielle Gruppendynamik und Euphorie erzeugt. Als grösster gemeinsamer Nenner sticht dabei das Thema Freiheit heraus: Wer «Bella ciao» anstimmt, sieht sich als freier Mensch in einer Gemeinschaft von Freien. Es geht dabei indes weniger um den handfesten Kampf als um Widerstand, der letztlich zum Martyrium wird. Der melodramatische Text von «Bella ciao» endet nämlich nach wie vor mit dem Tod des Protagonisten, zu dessen Ehren eine Blume aufs Grab gelegt wird.
Vor zwei Jahren löste Netflix einen riesigen Popularitätsschub aus. Und zwar durch die Serie «Haus des Geldes», die von einem Raub bei der spanischen Banknotendruckerei handelt. «Bella ciao» ist nicht nur das Titelstück, sondern spielt auch eine wichtige Rolle in der Geschichte: Der Kopf hinter dem Überfall hat die Partisanenhymne von seinem Grossvater vorgesungen bekommen und sieht sich als Widerstandskämpfer gegen das System. In der Folge der Serie wurden diverse Neuinterpretationen produziert, wobei eine Rap-Version es 2018 sogar zum Sommerhit schaffte.
Ein Lied mit Sprengkraft
In Italien selber hat «Bella ciao» viel Sprengkraft beibehalten. Wo es angestimmt wird, vereint und spaltet es zugleich. Wer sich nämlich der politischen Rechten zuordnet, kann auf keinen Fall mitsingen. Darum erhebt sich auch in der Öffentlichkeit öfters spontan ein Chor, etwa wenn sich der Lega-Chef Matteo Salvini unter die Passanten mischt. Aber selbst einen gemässigten Linken wie Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi, der mit Wählern von Mitte-rechts liebäugelt, kann «Bella ciao» in Verlegenheit bringen. So universell und populär das Lied auch geworden ist, gerade in Italien schafft es nach wie vor einen direkten Bezug zur erzkommunistischen Tradition. Als kürzlich bei einer öffentlichen Trauerfeier das Lied gesungen wurde, blieb Renzi darum auch mit geschlossenem Mund demonstrativ auf seinem Stuhl sitzen.
Ganz anders Don Massimo Biancalani. Der Pfarrer von Vicofaro in der Provinz Pistoia hat sich einen Namen gemacht, weil er am Ende der Messe öfters einmal ein «Bella ciao» anstimmen lässt. Wie er den Medien bekanntgab, möchte er damit ein Zeichen gegen den Hass setzen. Klar aber auch, dass er damit bei einem Teil seiner Schäfchen genau diesen schürt.